

"Wann begann das moderne Zeitalter? Historische Epochen gehen ineinander über, und es mag willkürlich erscheinen, nach einem absolut festgelegten Anfangspunkt zu suchen. Wann zum Beispiel begannen die Mittelalter? Wann endeten sie? Es wäre vergeblich, hier nach einem exakten Wendepunkt zwischen der Vergangenheit und der darauf folgenden Epoche zu fahnden. Doch mitunter gibt es Momente, in denen sich klar zeigt, dass etwas Neues bereits eingetreten ist und im Begriff steht, die Menschheitsgeschichte grundlegend zu verändern. So können wir den Beginn unseres modernen Zeitalters in das frühe 17. Jahrhundert legen. Denn dies war das Jahrhundert, in dem die moderne Wissenschaft und ihre begleitende Technologie entstand; und diese beiden, Wissenschaft und Technologie, sind wie wir gesehen haben zu den treibenden Kräften der modernen Zivilisation geworden.
Was ist moderne Wissenschaft? So oft wir diese Frage gestellt und beantwortet haben, müssen wir sie neu durchdenken, da wir uns dem Ende jenes Jahrtausends nähern, in dem die Wissenschaft das menschliche Leben entscheidend verändert hat. Wir werden in einem späteren Kapitel mehr dazu sagen. Hier soll genügen, festzuhalten: Was immer sie auch sonst sein mag, Wissenschaft ist ein Ausdruck der Kraft des menschlichen Geistes, seiner Freiheit und Originalität, Konzepte zu erschaffen, die nicht passiv in der Natur gefunden werden, die aber dennoch dazu dienen, unsere Erfahrung der Natur zu ordnen. Die bloße Existenz eines wissenschaftlichen Gebäudes ist an sich bereits ein mächtiger Beweis für die menschliche Freiheit.
Doch hier tritt ein seltsames Paradox auf. Die Mechanik war ein zentrales Element der neuen Physik; ohne sie konnte die Physik nicht in Gang kommen. Doch kaum war die Wissenschaft der Mechanik etabliert, folgte ihr eine weitverbreitete Ideologie des Mechanismus auf dem Fuß. Der Mensch ist eine Maschine, so lautet die Klage. Die Moleküle in der Natur bewegen sich blind nach den unveränderlichen mechanischen Gesetzen der Natur; und so wie unsere Moleküle sich bewegen, so tun wir es auch. Der menschliche Geist ist eine passive und hilflose Spielfigur, die von den Kräften der Natur herumgestoßen wird. Freiheit ist eine Illusion. Und diese Klage sollte im 19. Jahrhundert in einem Crescendo des Pessimismus gipfeln.
Kurzum: Kaum war die Wissenschaft in der modernen Welt angekommen, wurde sie auch schon von ihrem Schatten verfolgt: dem Wissenschaftismus. Was ist dieses eigentümliche Phänomen, das wir Wissenschaftismus nennen? Es ist nicht Wissenschaft – so wenig wie ein Schatten je mit dem Wesen eines Gegenstandes identisch wäre. Auch ist die Wissenschaft niemals Beweis für den Wissenschaftismus. Im besten Fall befeuert Wissenschaft lediglich die Vorstellungskraft bestimmter Geister – und sie sind nicht selten – die ohnehin zu pauschalen und unqualifizierten Verallgemeinerungen neigen.
Wissenschaftismus ist Pseudowissenschaft oder fehlgedeutete Wissenschaft. Seine Schlussfolgerungen sind weitreichend und überzogen und geben sich daher bisweilen als Philosophie aus. Doch mit Philosophie hat das nichts zu tun – sofern man unter Philosophie den ernsthaften Versuch versteht, besonnen innerhalb der Grenzen menschlicher Reflexion zu denken. Nein; Wissenschaftismus ist weder Wissenschaft noch Philosophie, sondern jene eigentümlich moderne Erfindung und Krankheit: eine Ideologie. Und wie andere Ideologien, die uns bedrängen, ist auch sie zu einem dauerhaften Bestandteil unserer modernen Kultur geworden.
Die Wissenschaft, die das 17. Jahrhundert suchte, war in erster Linie die Physik, das Verständnis der physischen Natur. Doch während die Naturwissenschaften aufblühten, wurden die Theorien des Geistes, die unter Philosophen keimten, immer paradoxer und widersprüchlicher. Es ist, als wären die Denker, die dieses blendende Gebäude der neuen Wissenschaft errichtet hatten, zunehmend ratlos angesichts des Geistes, der es hervorgebracht hatte. Die Lage hat sich seither nicht verbessert. In den dreieinhalb Jahrhunderten seit dem Eintritt der modernen Wissenschaft in die Welt haben wir unser Wissen über die physische Natur in Reichweite, Tiefe und Subtilität unermesslich erweitert. Doch unser Verständnis des menschlichen Bewusstseins ist in dieser Zeit bruchstückhaft und bizarr geworden, bis wir heute in Gefahr sind, jeglichen intelligenten Zugang zum menschlichen Geist vollends zu verlieren.
Es könnte sich daher lohnen, einen Schritt zurückzutreten und zu versuchen zu erkennen, wie es zu dieser Lage gekommen ist. Zu diesem Zweck brauchen wir den Leser nicht mit schwerfälligen historischen Details zu belasten. Wir werden durchgängig einem einzigen Thema folgen und dabei nur so viel Geschichte einfließen lassen, wie zur Klärung dieses Themas erforderlich ist. Wir werden hier auch nicht versuchen, eine neue "Theorie des Geistes" aufzustellen – was immer das auch sein mag. Solche Theorien verlieren mitunter in ihrer Genialität den Bezug zur bewussten Erfahrung selbst, da sie versuchen, sie durch etwas anderes zu ersetzen; und was wir hier versuchen wollen, ist schlicht: den Sachverhalt selbst zu erfassen – das Faktum des Bewusstseins als eine menschliche Wirklichkeit, die im Begriff ist, in der modernen Welt verloren zu gehen."
William Barrett | (1913–1992) war ein amerikanischer Philosoph und Autor, der als Brückenbauer zwischen kontinentaleuropäischem Existenzialismus und amerikanischem Denken galt. Mit Werken wie Irrational Man und The Death of the Soul kritisierte er den reduktionistischen Wissenschaftsglauben und setzte sich für eine tiefere Wertschätzung des menschlichen Bewusstseins ein. | The Death of the Soul, S. 14–16.
"When did this Modern Age begin? Historical epochs merge into one another, and it may be arbitrary to seek for points of absolute beginning. When, for example, did the Middle Ages begin? When end? It would be futile here to seek an absolute point of division between the past and the epoch that succeeded it. But sometimes there are points at which we can see clearly that by this time something new has already arrived and is bound to transform human history radically. Accordingly, we may take the beginning of our Modern Age to be the early-seventeenth century. For that was the century that created modern science and its accompanying technology; and these two, science and technology, have become, as we have seen, the driving forces within modern civilization.
What is modern science? As often as we have asked and answered this question, we need to rethink it again as we approach the end of the millennium in which that science has decisively transformed human life. We shall have more to say on this question in a later chapter. Suffice it here simply to note that, whatever else it may be, science is an exhibition of the power of the human mind, of its freedom and originality to construct concepts that are not passively found in nature but nevertheless serve to organize our experience of nature. Thus the existence of a body of science is in itself a powerful evidence of human freedom.
Yet here a curious paradox arises. Mechanics was a central part of the new physics; until mechanics was firmly established, physics could not get under way. But the science of mechanics was no sooner founded than a widespread ideology of mechanism followed in its wake. Man is a machine, so the lament goes. The molecules in nature blindly run according to the inalterable mechanical laws of nature; and as our molecules go, so do we. The human mind is a passive and helpless pawn pushed around by the forces of nature. Freedom is an illusion. And this lament was to rise to a crescendo of pessimism during the nineteenth century.
In short, no sooner has science entered the modern world than it becomes dogged by its shadow, scientism. What is this peculiar phenomenon we call scientism? It is not science, any more than the shadow is anywhere identical with the substance of a thing. Nor is science ever evidence of scientism. At most, science merely serves to heat up the imagination of certain minds—and they are not few—who are too prone to sweeping and unqualified generalizations in the first place. ^Scientism is pseudoscience or misinterpreted science. Its conclusions are sweeping and large, and therefore sometimes pretend to be philosophical. But it is not a part of philosophy, if by philosophy we mean the effort to think soberly within the restrictions that human reflection must impose for itself. No; scientism is neither science nor philosophy, but that peculiarly modern invention and malady—an ideology. And as such, along with other ideologies that beset us, it has become a permanent part of our modern culture.
The science which the seventeenth century sought was chiefly physics, the understanding of physical nature. But at the same time, as the science of nature blossoms, the theories of mind that sprout among philosophers become more paradoxical and at odds with each other. It is as if the thinkers who had reared this dazzling structure of the new science were more and more puzzled to understand the mind that had produced it. The situation has not improved since. In the three and a half centuries since modern science entered the world, we have added immeasurably to our knowledge of physical nature, in scope, depth, and subtlety. But our understanding of human consciousness in this time has become more fragmentary and bizarre, until at present we seem in danger of losing any intelligent grasp of the human mind altogether.
It may be worthwhile, then, to take a step backward and try to see how this situation has come about. For this purpose we need not burden the reader with heavy and excessive historical detail. We shall be pursuing a single theme throughout, and we shall make use of only as much history as may serve to establish its thematic clarity. Nor shall we be seeking here to establish any new "theory of mind,” whatever that might be. Such theories, in their ingenuity, sometimes lose their grasp on the very fact of consciousness itself as they seek to replace it by something different; and what we shall be trying here to do is simply to lay hold of the fact itself, the fact of consciousness as a human reality that seems on the way to getting lost in the modern world."
The Death of the Soul. pp. xiv-xvi.
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