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"Die Form, in der heute alle europäischen Staaten regiert werden, gestattet die Vergeudung der vom Bürger geforderten Leistungen an thörichte, leichtfertige und verbrecherische Unternehmungen. Die Laune einzelner Menschen, das selbstische Interesse verschwindend kleiner Minderheiten bestimmt nur zu häufig allein das Ziel, auf welches die Anstrengungen der Gesammtheit gerichtet werden. So arbeitet und blutet der einzelne Bürger, damit Kriege geführt werden, die sein Leben oder seinen Wohlstand zerstören, damit man Festungen, Paläste, Eisenbahnen, Häfen oder Kanäle baue, aus denen weder er noch neun Zehntel der Nation jemals den geringsten Nutzen ziehen werden, damit neue Ämter entstehen, welche die Staatsmaschine noch schwerfälliger, die Reibung ihrer Räder noch härter machen, in welchen er noch einen Theil seiner Zeit verlieren, noch ein Stück seiner Freiheit lassen wird, damit man Beamte hoch besolde, die keinen andern Zweck haben, als auf seine Kosten eine ornamentale Existenz zu führen und ihm das Dasein zu erschweren; er arbeitet und blutet mit einem Worte, um selbst sein Joch lastender und seine Ketten fester zu machen und um die Möglichkeit zu schaffen, von ihm noch mehr Arbeit und noch mehr Blut zu erhalten. Nur in sehr kleinen Staaten oder in solchen mit weitgehender Dezentralisation und Selbstverwaltung wird die Leistung des Bürgers nicht so unverantwortlich verpraßt; derartige Gemeinwesen nähern sich in ihrer Natur und ihren Existenzbedingungen den Kooperativ-Genossenschaften, in denen jedes einzelne Mitglied die Verwendung seiner Beträge leicht übersehen, unnöthige Ausgaben verhüten, aussichtslose Unternehmungen von vornherein bekämpfen oder rechtzeitig aufgeben kann; man fühlt da jeden Nutzen und jeden Verlust unmittelbar, sieht sich durch jenen für gebrachte Opfer entschädigt und wird von diesem vor dem Weiterschreiten auf falschen Wegen behütet. [....] Durch die moderne Vielregiererei, durch das endlose Schreiben, Protokolliren, Amten, Verbieten und Erlauben wird Leben und Eigenthum des Individuums nicht mehr geschützt als ohne diesen ganzen verwickelten Apparat. Für alle Opfer an Blut, Geld und Freiheit, die der Bürger dem Staate bringt, empfängt er von diesem kaum andere Lebenserleichterungen als die Gerechtigkeit, die überall unverhältnißmäßig theuer und langwierig [....] Der Vorwand, daß die Freiheit des Einzelnen nur aus Rücksicht auf die Rechte der Anderen geschmälert wird, ist ein schlechter Scherz; diese angebliche Rücksicht verhindert nicht die Vergewaltigung Einzelner und beraubt Alle des größten Theils ihrer natürlichen Bewegungsfreiheit; das Gesetz übt also von vornherein und mit Sicherheit auf jedermann den Zwang, den ohne es nur einzelne gewaltthätige Naturen in Ausnahmsfällen vielleicht auf Einige üben würden.[....] Der Bürger ist in den Fesseln, die ihm die Staatseinrichtungen auferlegen, ganz so auf Selbstschutz angewiesen wie der freie Wilde, findet sich aber dazu ungeschickter als dieser, weil er es verlernt hat, für sich selbst zu sorgen, weil er nicht mehr den richtigen Sinn für die Wahrnehmung seiner nahen und fernen Interessen besitzt, weil er von Kindheit an gewöhnt ist, Druck und Zwang zu dulden, gegen den sich dieser im ersten Augenblicke, wenn es sein müßte mit Darbringung seines Lebens, empören würde, weil ihm der Staat die Vorstellung anerzogen hat, daß Ämter und Behörden für ihn in allen Lagen zu sorgen haben, weil das Gesetz die gegenstrebende Elastizität seines Charakters gebrochen, durch seine beständige Pressung jede Widerstandskraft zermalmt und ihn dahin gebracht hat, Vergewaltigung gar nicht mehr als Unrecht zu empfinden. Es ist nicht wahr, daß es all unserer Polizeivorschriften bedarf, um unser Leben und Eigenthum zu schützen; in den Goldsucherlagern des amerikanischen Westens und Australiens nahmen die Individuen ihren Schutz in die eigene Hand, indem sie die sogenannte »Vigilance Committees« bildeten, und ohne jeden Amtsapparat herrschte alsbald die musterhafteste Ordnung. [....] Wenn man heute neun Zehntel der bestehenden Gesetze und Reglements, der Ämter und Behörden, der Urkunden und Protokolle abschaffte, so würde die Sicherheit der Person und des Vermögens dieselbe sein wie gegenwärtig, jeder Einzelne würde fortfahren, alle seine Rechte ungeschmälert zu genießen, von den wirklichen Vortheilen der Zivilisation ginge niemand auch nur das Geringste verloren und dabei würde das Individuum eine Freiheit der Bewegung erlangen, sein Ich mit einer wonnigen Intensität empfinden und ausleben, von der es sich in seinem heutigen Erbzustand der allseitigen Gebundenheit gar keine Vorstellung machen kann. Vielleicht würde ihm solche Freiheit im ersten Augenblicke sogar Unruhe und Angst einflößen wie einem in der Gefangenschaft erzogenen Vogel, dem man das Bauer öffnet; es müßte erst lernen, vor der Ausbreitung seiner Flügel bis zu ihrer äußersten Klafterung keine Furcht zu haben und seine Raumscheu zu überwinden. [....] Auch in diesem idealen Zustande würde der Einzelne für das Gemeinwesen arbeiten, mit anderen Worten Steuer zahlen müssen, allein den öffentlichen Abgaben würde nicht mehr der Charakter einer Erpressung innewohnen, der sie heute hassenswerth macht."

Max Nordau | war Arzt, Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Organisation.

"The form in which all European states are governed today allows the services demanded of citizens to be squandered on foolish, frivolous and criminal undertakings. The whim of individuals, the self-interest of vanishingly small minorities, all too often determines the goal towards which the efforts of the whole are directed. Thus the individual citizen works and bleeds so that wars may be waged which destroy his life or his prosperity, so that fortresses, palaces, railroads, harbors or canals may be built from which neither he nor nine-tenths of the nation will ever derive the slightest benefit, so that new offices may be created, which will make the state machine still more cumbersome, the friction of its wheels still harder, in which he will lose still more of his time, still more of his freedom, so that officials may be highly paid who have no other purpose than to lead an ornamental existence at his expense and to make his existence more difficult; In a word, he works and bleeds in order to make his yoke heavier and his chains tighter and to create the possibility of obtaining even more work and even more blood from him. It is only in very small states, or in those with extensive decentralization and self-government, that the efforts of the citizen are not so irresponsibly squandered; such commonwealths, in their nature and conditions of existence, resemble co-operative societies, in which each individual member can easily oversee the use of his sums, prevent unnecessary expenditure, oppose unpromising undertakings from the outset, or give them up in time; In this way, every benefit and every loss is felt directly, the member sees himself compensated for the sacrifices he has made and is protected from going further down the wrong path. [....] The life and property of the individual is no more protected by modern multi-government, by the endless writing, recording, officiating, prohibiting and permitting than it would be without all this intricate apparatus. For all the sacrifices of blood, money and liberty which the citizen makes to the state, he receives from it scarcely any other relief in life than justice, which is everywhere disproportionately expensive and tedious [.... The pretext that the liberty of the individual is diminished only out of consideration for the rights of others is a bad joke; this alleged consideration does not prevent the rape of individuals and deprives all of the greatest part of their natural freedom of movement; the law thus exerts from the outset and with certainty on everyone the compulsion that without it only individual violent natures would perhaps exert on some in exceptional cases.[.... In the fetters imposed on him by the institutions of the state, the citizen is quite as dependent on self-protection as the free savage, but finds himself more inept at it than the latter, because he has forgotten how to take care of himself, because he no longer possesses the right sense for the perception of his near and distant interests, because he is accustomed from childhood to tolerate pressure and coercion, against which the latter at the first moment resists, because the state has inculcated in him the idea that offices and authorities must take care of him in all situations, because the law has broken the opposing elasticity of his character, has crushed every power of resistance by its constant pressure, and has brought him to the point where rape is no longer perceived as injustice. It is not true that it requires all our police regulations to protect our lives and property; in the gold-seeking camps of the American West and Australia the individuals took their protection into their own hands by forming the so-called "Vigilance Committees," and without any official machinery the most exemplary order soon prevailed. [....] If nine-tenths of the existing laws and regulations, of offices and authorities, of deeds and protocols were abolished today, the security of the person and of property would be the same as at present, every individual would continue to enjoy all his rights undiminished, no one would lose the slightest of the real advantages of civilization, and the individual would attain a freedom of movement, feeling and living out his ego with a blissful intensity of which he can have no conception in his present hereditary state of all-round bondage. Perhaps at first such freedom would even instill in it restlessness and fear, like a bird raised in captivity to which one opens the peasant; it would first have to learn to have no fear of spreading its wings to their outermost folds and to overcome its fear of space. [....] Even in this ideal state, the individual would have to work for the community, in other words, pay taxes, but public levies would no longer have the character of extortion that makes them hateful today."

Max Nordau | was a doctor, writer, politician and co-founder of the Zionist Organization.

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